CORD MEIJERING COMPOSER

"No man ever steps in the same river twice" (Heraclitus)

CORD MEIJERING
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SYMPHONY NO. 2
for grand orchestra

3 flutes (3rd alt. picc.), 2 oboes (1st and 2nd alt. oboe d’amore), 1english horn, 2 clarinets, 1 bass clarinet, 2 bassons, 1 contra bassoon, 4 horns, 3 trumpets, 3 trombones (1 tn basso), 1 tuba, timpani,1 harp, 1 piano (alt. celesta), strings

composed in
1990

duration
approx. 31 min.

dedicated to
Hans Werner Henze on occasion of his 65th birthday

first performance
march 3, 1992
Staatstheater Darmstadt, Germany
Orchestra of the Staatstheater Darmstadt
conductor: Hans Drewanz

publisher
EDITION MEIJERING

program notes
Wenn ich etwas über meine zweite Sinfonie berichte, so werde ich etwas über die Umstände und die Gedanken, die zu der Musik führten oder sie begleiteten, erzählen, weniger über die Musik selbst.
Die Arbeit begann in dem heißen Sommer 1990 in Darmstadt und wurde am Silvestertag desselben Jahres beendet. Die ersten Eintragungen im Skizzenbuch datieren jedoch schon vom 28. August 1989. Befasst man sich längere Zeit mit einem Stück, so gibt es viele Dinge, die die Arbeit beeinflussen, verändern oder durchkreuzen. Es sind hier unter anderem literarische Beschäftigungen mit Texten von Paz, Proust, Konfuzius, Hawking, Eliade, Borges und Robert Walser zu nennen, darüber hinaus Analysen einiger Werke von Machaut, Monteverdi, Beethoven und der Neuen Musik, aber auch politische Ereignisse, insbesondere der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme, die ich durch mein Ostberliner Studium bei Hans Jürgen Wenzel aus der Nähe beobachten konnte. Oft erschien mir der Triumph des Westens als irres Lachen eines Todgeweihten über den Tod eines anderen. Auch hatte ich oft den Eindruck, dass es nicht nur der Sozialismus war, der hier zusammenbrach, sondern in erster Linie das ihm zugrunde liegende abendländisch-lineare Denken. Sollte dem so sein, so sind auch das Christentum und die traditionellen abendländischen Philosophien mit ihrem sukzessiven Gesichtsdenken und ihrer Einteilung der Welt in Gut und Böse wie auch der Kapitalismus mit seinem Wachstumsglauben und seiner Einteilung der Welt in Nützlich und Un-Nützlich vom möglichen Untergang bedroht. Älteres, archaisch anmutendes Zyklendenken scheint unsere gealterten Vorstellungen von der Welt zu verdrängen. Wenn Menschen in der Stadt Bagdad, einer der Quellen unserer Märchen und Mythen, im Namen der Menschlichkeit niedergeschlachtet werden, so ist unsere alte Moral längst eine hohle Phrase geworden. Die einstmals antithetisch angelegten Begriffe von Gut und Böse werden austauschbar, und das Vergessen, das noch am ende der Odyssee von Zeus und Athene auf wunderbare Weise über die Menschen ausgestreut wurde, damit sie wieder miteinander leben konnten, wird in unserer Medienwelt mit ihren in Sekundenschnelle wechselnden zusammenhanglosen Bildern und Pseudoinformationen zu einem unablässig perpetuierten Ritual im Kampf um das tägliche Überleben. Festzustellen bleibt jedoch, dass die „besseren“ Kräfte des Abendlands, insbesondere seine Philosophen – der Frage nachgehend wie der Mensch die Geschichte erträgt – immerhin den Wunsch hatten, die Zukunft durch Pläne, Denk- und Handlungssysteme für uns bewohnbar zu machen, dass die zu Lasten der Gegenwart ging, ergab sich beinahe unbemerkt wie von selbst.

Man mag sich fragen, warum man in solchen Zeiten Sinfonie schreibt. Ich kann nur für mich selbst antworten, dass die Sinfonie ein Inbegriff des abendländisch-dialektischen Denkens ist und mir als belastete Form geeignet schien, den Zerfall dieses Denken für mich begreifbar zu machen.

Meine Symphonie Nr. 2 ist Hans Werner Henze zum fünfundsechzigsten Geburtstag als Zeichen meiner Verehrung und meines Dankes gewidmet. Ich danke ihm für den wunderbar anregenden Unterricht, den ich für beinahe drei Jahr in der Kölner Musikhochschule erleben durfte, und dafür, dass er mein Denken in Musik verändert, präzisiert und geöffnet hat. Die Widmung ist nicht nur ein äußeres Zeichen, sondern zeigt sich auch innerhalb der Komposition durch einige Anspielungen auf Henzes 3. und 7. Sinfonie. Nicht versäumen möchte ich auch Hans Drewanz an dieser Stelle meinen herzlichen Dank dafür zu sagen, das er mir nun schon zum zweitenmal durch seine leidenschaftliche und unermüdlich Arbeit die Gelegenheit gegeben hat, mich in der großen sinfonischen Form zu versuchen.

Beginne ich mit dem Komponieren, so schaffe ich zunächst der Musik den für sie nötigen Raum, worunter ich eine gedankliche Arbeit verstehe, die teilweise dem Komponieren vorausgeht, teilweise aber auch die Gestaltung der ersten Formteile bestimmt oder begleitet. Vielleicht könnte man diesen Prozess auch einfach als ein „sich komponierend Herantasten“ bezeichnen. Der auf diese Weise entstandene erste Satz ist gebaut wie eine aristotelische Festrede, so als wollte ich sagen „ich habe das noch gekannt und geliebt, unser aristokratisch gelehrtes, aufgeklärtes Bewusstsein, dessen schönstes Geschenk die menschliche Vernunft war. „Einige Allusionen an den Satz „Anrufung Apolls“ aus Henzes 3. Sinfonie mögen in diesem Zusammenhang Zeichen meiner Bewunderung für die Klarheit der alten griechischen Gedankenwelt (die ihrerseits lange Tradition hat) verstanden werden. Im zweiten Satz wird die geordnete Sprache des ersten dann brutal zerschlagen um – analog zu archaischen Initiationsriten – ein Chaos herzustellen, aus dem heraus sich möglicherweise ein neuer Kosmos gestalten ließe. Der dritte Satz ist der längste – die Proportionen der Sätze zueinander sind gleichsam als Absicherung und Objektivierung nach dem „Goldenen Schnitt (8:5:13) gestaltet. Auch hier spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle – diesmal ist es jedoch die persönliche Erinnerung an die eigene Kindheit die Einfluss auf den Erfindungsprozess nimmt. Dem Satz ist ein Zitat aus Shakespeare’s „Sturm“ voranstellt: „Wo ist wohl die Musik? in der Luft? auf Erden?.../ Sie spielt nicht mehr – sie dienet einem Gott/Der Insel sicherlich!.. Ich saß am Strand,/Beweint aufs neu den König, meinen Vater:/Da schlich sie zu mir über die Gewässer/Und lindert ihre Wut und meinen Schmerz/Mit süßer Melodie; dann folgt ich ihr-/ Sie zog vielmehr mich nach. Nun ist sie fort..../Da hebt sie wieder an!“

Weil ich meine Kindheit auf der Nordseeinsel Spiekeroog verbracht habe, ist mir die von Shakespeare geschilderte Situation sehr vertraut. Denke ich an das Meer, so sind alle Sinne angesprochen: Ich höre die Stimmen der Mütter „Schwimmt nicht zu weit raus, badet nicht bei ablaufendem Wasser“, ich schmecke das Salz, den Tang und das Dünengras. Einen festländischen Freund fragte ich einmal „Riechst du das?“ So riecht Spiekeroog“. – „Nein, ich rieche nichts“ war seine Antwort. Wenn ich an das Meer denke, dann spüre ich den Sog ins Dunkle, ins vorkosmische Chaos, in den Tod. Wenn ich in Gedanken am Strand sitze und den unendlich verschiedenartigen und doch unablässig wiederkehrenden Geräuschen lausche, der Multiphonie der Vögel, die besonders in den frühen Morgenstunden zu hunderttausenden im Watt zu hören sind, so ergibt sich ein Strom von Klängen, die ihren Widerhall in meinem Innern finden. Die so von den einströmenden Dingen ausgelöste Bewegung verbindet sich mit einem inneren Monolog zu einer transformierten polyphonen Bewegung, die Gestalt annehmen möchte im Laut. Nicht die Naturklänge werden demnach in meiner Musik geschildert, sondern die von ihnen ausgelöste innere Bewegung wird von ihr nachgezeichnet und zum Klingen gebracht. Die so evozierte Musik folgt einer zyklischen, in sich selbst kreisenden Form als ginge es darum, noch einmal für wenige Minuten in die mythische Zeit der Kindheit einzutauchen oder – um es mir Lorcas Worten zu sagen: „Oft schon bin ich im Meer versunken,/das Ohr voller frisch geschnittener Blumen, die Zunge voller Liebe und Agonie“.

Das Meer ist eine ungestalte Flut, in meinen Gedanken birgt es die Schatten unserer Ahnen: Das Meer ist der Tod und in unserem Wahn haben wir mit unseren Giften versucht, den Tod, der das Meer ist, zu töten. Das Kindheitsparadies ist zerstört, die Brücke zurück ist zerbrochen, wir sind unwiderruflich in die Gegenwart geworfen. Die Beschäftigung mit der sinfonischen Form heißt demnach: umgehen mit alten Träumen, mit Masken und mit Zaubersprüchen, die ihre Kraft verloren haben. Es ist wie das Wandeln in einem Totenreich. Zwischen ihm und uns liegt nur noch die Zeit. Das Meer ist überall, weil der Tod überall ist.